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Geschichte gegen das Vergessen

Interview

Interview // Sandra Lüpkes – Die Schule am Meer

Das neue Buch von Sandra Lüpkes “Die Schule am Meer” ist gerade erschienen. Leider sind die teilweise ausverkauften Lesungstermine sind auf unbestimmte Zeit verschoben. Dennoch durfte ich Sandra Lüpkes interviewen…

Sie kommen selbst von der Insel Juist, wieviel von Martin Luserke und seiner Schule am Meer ist Ihnen schon vor der Recherche bekannt gewesen?

Die Allermeisten auf der Insel wissen, dass es diese Schule gegeben hat, einige Gebäude stehen ja noch, dort sind jetzt die Jugendherberge und das Küstenmuseum untergebracht. Doch das Schicksal der Schule wurde mitunter nur kurz umrissen: Sie wurde irgendwann in den 1920ern gegründet, viele der Lehrer und Schüler waren prominent, dann musste sie nach ein paar Jahren wieder geschlossen werden, weil es finanzielle und auch politische Schwierigkeiten gab. Das war’s.

Zur Verfügung gestellt von Sandra Lüpkes: Von April bis Oktober war das morgendliche Bad in der Nordsee Pflicht für Schüler und Lehrer

 

Wie kam es dann zu diesem historischen Buch?

Bei einer Lesung im Herbst 2017 im Küstenmuseum habe ich eine Schautafel über die „Schule am Meer“ gesehen und mich das erste Mal gefragt, was für Menschen das eigentlich genau gewesen sind, die all ihr Wissen, ihre Energie, ihr Geld in dieses Internat gesteckt und es ausgerechnet an einem so wenig bequemen Ort wie Juist errichtet haben. Und wie erging es diesen Idealisten, nachdem ihre Vision gescheitert war. Da hatte mich das Thema gepackt.

Zur Verfügung gestellt von Sandra Lüpkes: Das Schulschiff wird zum Wattenmeer gebracht, das Mädchen mit den Zöpfen ist Annis Tochter Renate

 

Wie wurde recherchiert?

Der Museumsleiter Jochen Büsing, den ich noch aus Schulzeiten kenne, hat mich sehr unterstützt und mir erlaubt, im Archiv zu stöbern. Es gibt sehr viele Zeitzeugnisse, Memoiren von Lehrern und Schülern, Zeitungsausschnitte, unzählige Fotos. Doch am spannendsten war das sogenannte Logbuch, ein mehr als 700 Seiten umfassender Schulbericht, in dem täglich das Wetter, die Windrichtung, aber auch Anekdoten, Beschlüsse und vieles mehr notiert wurde. Doch ab der Mitte des Romans wurde mir klar, dass ich auch dringend recherchieren muss, was aus der jüdischen Lehrerin Anni Reiner wurde, eine meiner Hauptfiguren, über die im Logbuch leider nur wenig zu lesen ist. Glücklicherweise fand ich ihre jüngste Tochter Karin, die inzwischen 87jährig in der Nähe von Zürich lebt. Wir haben in einer längst vergessenen Ecke tatsächlich noch viele Briefe entdeckt, die Anni Reiner in den 1930er Jahren an ihre Töchter geschrieben hat.

Zur Verfügung gestellt von Sandra Lüpkes: Eduard Zuckmayer lebte für die Musik, mit dem schuleigenem Orchester und dem Chor wurden mehrfach im Jahr Konzerte anspruchsvolle gegeben

 

Wie schwer war es die realen Personen (z.B. Martin Luserke, Eduard Zuckmayer, Paul und Anni Reiner, Walter und Gisela Jockisch) mit literarischem Leben zu füllen?

Martin Luserke, über den mit Abstand am meisten bekannt ist, hat in meinem Roman keine eigene Perspektive, wir erleben diesen sehr ambivalenten Charakter also nur aus der Sicht seiner Mitmenschen. Das hat es mir vereinfacht, seine Entwicklung in die rechte Richtung zu schildern. Eduard Zuckmayer war mir von Anfang an irgendwie sehr nahe, wahrscheinlich weil uns die Liebe zur Musik eint. Über ihn steht viel in der Autobiografie seines berühmten Bruders Carl, auch wenn dieser einige Dinge überdramatisiert hat, wie ich wiederum durch eine Filmdokumentation erfahren habe. An Anni Reiner musste ich viel feilen, denn sie zwar Mutter und Ehefrau und Idealistin, aber eben keine liebliche Frauenfigur. Von Anfang an hab ich gespürt, dass ich sie nicht so gefühlsduselig erzählen darf. Und ihre Nachfahren haben es mir schließlich bestätigt: Anni war zwar warmherzig, aber auch sachlich, sie handelte lösungsorientiert, selbst in den schlimmsten Schicksalsmomenten. Ihre innere Zerrissenheit schimmerte wenn überhaupt, dann nur ganz sachte durch.

Zur Verfügung gestellt von Sandra Lüpkes: Im Sommer 2019 traf Sandra Lüpkes Karin Reiner, die Tochter ihrer Romanheldin, beide hatten sich viel zu erzählen

 

Welcher Schüler liegt ihnen besonders am Herzen und warum?

Ganz klar: Moskito, der eigentlich Maximilian Mücke heißt und von seinen Eltern, die in Bolivien leben, ins Internat nach Deutschland geschickt wird. Mit ihm gehen wir durch die neun Jahre, die diese Schule existiert hat. Von der Sexta bis zur Oberprima. Wir werden mit ihm erwachsen, erleben Abenteuer, die erste Liebe, das Zerbrechen einer Freundschaft und die Versöhnung. Moskito ist fiktiv, jedoch setzt er sich aus verschiedenen Schülern zusammen, deren Jugenderinnerungen ich gelesen habe.

 

Auf den ersten Blick ist das Buch eine Internatsgeschichte. Lehrer mit eigenen Sorgen, Nöten und Idealen treffen auf ihre Schützlinge, die ihre eigene Geschichte mit auf die Insel bringen und sich nach und nach entfalten. Es hat mich ein bisschen an meine Lieblingsgeschichten von früher erinnert: Hanni und Nanni, Dolly, Burg Schreckenstein (nur erwachsener thematisiert)…haben Sie diese Bücher früher auch gelesen?

„Hanni und Nanni“ lag natürlich auch auf meinem Nachttisch. Jedoch war ich selbst mal ein Jahr auf einem Internat. Da es auf Juist kein Gymnasium gibt, bin ich mit 15 auf’s Festland in eine Heimschule extra für Inselkinder. Dort kollidierte dann die Romantik mit der Realität, ich hab es nur ein Jahr ausgehalten und bin dann mit meinem älteren Bruder in eine WG gezogen. Allerdings hatte ich während meiner Internatszeit den besten Deutschlehrer überhaupt, noch heute stehen wir in Kontakt.

 

Die Seele der Küche Kea hat einiges zu bieten. Welche Gerichte haben Sie selbst davon schon einmal gekocht/gegessen?

Grünkohl, das Gericht, mit dem Kea sich in die Herzen der Schulleitung gekocht hat, ist eine meiner Spezialitäten. Auch Klütje mit Birnen und Vanillesauce habe ich früher, als meine Kinder noch klein waren, gern gekocht. Und wenn ich jetzt an Neujahrskuchen denke, möchte ich gleich mein Waffeleisen rausholen … Also: Ja, ich liebe die ostfriesische Küche und hab die Kea-kocht-Szenen knallhart recherchiert 😉

Zur Verfügung gestellt von Sandra Lüpkes: Im Eiswinter 1928/29 landeten die Versorgungsflieger am Juister Strand, später stellte sich heraus, dass es sich dabei um eine geheime Militärstaffel gehandelt hat

 

Wie fühlt man sich als Autor, wenn man eine solche Szene wie die Bücherverbrennung schreibt?

Auch das ist so ein Thema, dem ich mich erst durch die Arbeit an diesem Roman wirklich genähert habe. Was bedeutet es, wenn die Obrigkeit darüber entscheidet, welche Bücher gelesen werden sollen – und welche zerstört werden müssen. Denn es heißt ja: Welche Geschichten darf es geben – und welche nicht. „Berlin Alexanderplatz“,  „Im Westen nichts Neues“, die Werke von Ringelnatz und Tucholsky – noch heute aktuell und weise, doch wenn es nach den Nazis gegangen wäre, hätten wir keine Erinnerung mehr daran. Ist das nicht furchtbar?

Ohne zu Spoilern, hat mich Moskitos Schicksal mit nur einem kleinen Wort getroffen und mich traurig das Buch beenden lassen. Musste dies als literarische Mahnung sein?

Es ist schwer, spoilerfrei darauf zu antworten. Aber soviel: Die Welt stand damals am Abgrund, ohne es zu wissen. Die Eltern und Lehrer haben viel investiert, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen – und dann mussten sie diese in den Krieg schicken. Das ist vielleicht tatsächlich eine Mahnung: Wir wissen nicht, was kommt. Aber wir wissen, was gewesen ist. Deshalb sollten wir wachsam bleiben.

Eigentlich hätten die ersten Lesungen zu dem Buch stattfinden sollen (auch meine Karte hängt leider ganz verloren an der Pinnwand), verraten Sie uns ein bisschen, was uns auf der Lesung erwarten wird, wenn wir alle wieder ins öffentliche Leben zurückkehren dürfen…(Musik? Fotos?)

Ja, genau heute (26.3.2020) hätte bei meiner Lieblingsbuchhandlung „Leuenhagen & Paris“ die Buchpremiere stattgefunden. Es ist so schade, dass nun alles ausfällt beziehungsweise auf ungewissen Zeit verschoben wurde. Abgesehen von einer unbändigen Vorfreude hätte ich meinen Beamer mitgebracht und dem Publikum neben den Lesepassagen Fotografien gezeigt. Historische und aktuelle gleichermaßen, denn die Arbeit an diesem Buch ist im Grunde genau so spannend wie der Roman selbst. Daran hätte ich die Leser*innen gern teilhaben lassen. Aber Kopf hoch, es wird schon werden! Bis dahin bleibt Zeit zum Lesen oder – in meinem Fall – über einen neuen Roman nachzudenken …

© Sarah Koska

 

Vielen Dank für das Interview und ich werde hoffentlich bald von der Lesung in Hannover berichten können.

Rezension

Rezension // Tess Gerritsen – Totenlied

 

INHALT:
Die Violinistin Julia bringt von einer Italienreise ein ganz besonderes Souvenir mit. Einen alten Bogen mit Noten und die haben es in sich: Sie fordern Julias musikalisches Können bis aufs Äußerste und immer wenn Julia die aufwühlenden Noten spielt und der faszinierende Walzer ertönt, scheint etwas Merkwürdiges mit Julias dreijähriger Tochter zu passieren. Aus Angst und Sorge fängt Julia an zu recherchieren und schwebt dabei in tödlicher Gefahr….

FAZIT:
Obwohl die Autorin sehr fleißig ist, habe ich bislang noch nichts von ihr gelesen. Doch dieser Klappentext sprach mich an. Ich war sowas von neugierig…und da es ein Einzelband ist, griff ich zu und konnte es kaum aus der Hand legen.

Das Buch hat zwei Zeitschienen: Zum einen die aktuellen Geschehnisse um Julia in der heutigen Zeit und zum anderen der Entstehungszeitpunkt der Noten. Ihre Welt wird durch das Musikstück komplett aus den Angel gehoben. Durch Julias fast fanatische Art sich auf das Musikstück einzulassen, droht ihrer Familie eine undefinierbare Gefahr.

Aufgrund des Hintergrunds der Autorin (Ärztin und Violinen- und Klavierspielerin) ist dem Leser von Anfang an klar, dass “das was man sieht, nicht unbedingt das ist, was passiert” (Zitat von der Lesung – Bericht findet sich HIER).

Der Leser wird – damit verrate ich nicht zuviel – zusätzlich auch noch auf eine andere Fährte gelockt, denn die zweite Zeitschiene spielt während des Faschismus in Italien. Der Komponist ist ein junger jüdischer Italiener namens Lorenzo, der…..

Mehr verrate ich nicht. Denn die Kombination aus Thriller und “Geschichte gegen das Vergessen” ist wundervoll gelungen.

Das Buch ist für Krimi/Thrillerliebhaber und Fans von historischen Romanen Rund um den Zweiten Weltkrieg. Dinge die in Erinnerung bleiben sollen, werden mahnend mit den aktuellen Geschehen verflochten, wobei es die Autorin geschafft hat, mir den Faschismus in Italien näher zu bringen. Viele Fakten waren mir unbekannt, obwohl ich in der Schule Geschichteleistungskurs mit u.a. diesen Themen hatte. Das Buch enthält auch eine traurige Liebesgeschichte, denn Lorenzo wurde von einer Katholikin geliebt…..volle Punktzahl für dieses eindrucksvolle Buch.

Verlag: Limes
erschienen: 2016
Seiten: 320
ISBN: 978-3809026709

© Sonja Kochmann
© Sonja Kochmann

 

Rezension

Rezension // Claire Hajaj – Ismaels Orangen

1948 wird der 7jährige Salim, Sohn eines palästinensischen Orangenzüchters aus seinem Geburtshaus vertrieben. Der Krieg zerstört seine Hoffnungen, eines Tages die Früchte von seinem Geburtsorangenbaum zu pflücken.

Judit wächst zur gleichen Zeit in England auf. Ihre Familie ist schwer gezeichnet von den Erfahrungen des Holocausts.

Etwa 12 Jahre später treffen sich beide in London. Eine zarte Liebe entsteht, die fast keine Chance hat zu bestehen….

In der Verlagsvorschau und im Internet ist mir dieses wundervolle Cover ins Auge gefallen. Die warmen Farben, der wunderschöne Baum….man gerät direkt ins Träumen.

Leider tat ich mich im ersten Drittel des Buches etwas schwer. Denn die Vielzahl der Namen wurden dem Leser schonungslos Seite um Seite präsentiert. Auch geschichtliche Fakten Rund um Palastinä, den Krieg und die zeitlichen Abläufe kamen ohne Vorwarnung. Obwohl ich mich mit der Geschichte ein wenig auskenne, war ich teilweise doch etwas überfordert. Doch ich las tapfer weiter, denn Salim und Judit wurden mir sympathisch.

Judit ist ein junges Mädchen, was aufgrund der geschichtlichen Umstände ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden hat und ihre Umgebung nutzt diesen Zustand durch antisemitische Handlungen aus. Dass sie selbst in einer Art Identitätskrise steckt, merkt der Leser, da sie sich mal Judit, Judith, oder Jude (in englischer Aussprache) nennt.
Sie hat ein offenes Wesen und geht nahezu vorurteilsfrei durchs Leben, was sie sehr sympathisch, aber auch verletzlich macht.

Salim ist ein junger Mann, der durch sein Erlebnis mit ständiger Wut beinahe das Wesentliche aus den Augen verliert.

Mehr möchte ich dann dieser Stelle nicht verraten, aber das Buch macht deutlich, dass eine Partnerschaft nicht nur von den beiden Hauptpersonen geprägt wird, sondern auch von ihrer Umgebung.

Das Ende kam für mich leider ein bisschen zu schnell. Eine – wirklich nur eine Szene – mehr zwischen Salim und Jude hätte mich sehr gefreut.

Trotz meiner Einstiegsschwierigkeiten hat mich das Buch sehr beeindruckt und ich vergebe 7 von 10 Punkten.

Verlag: Blanvalet
erschienen: 2015
Seiten: 448
ISBN: 978-3764505165

 

Die Autorin in rot – getroffen auf der Leipziger Buchmesse 2015
© Sonja Kochmann

 

Gesehen auf der Leipziger Buchmesse 2015
© Sonja Kochmann